Ich bin im Amazonasgebiet Ecuadors geboren, genauer gesagt: in Tena, der Hauptstadt der Provinz Napo. Ein Teil des Gebiets um Tena herum gehörte meinen Vorfahren mütterlicherseits, den Shiguango Muntun (Muntun heißt Großfamilie).
Als kleines Kind und später nur in den Schulferien haben wir im Regenwald gelebt. Ja, damals gab es sehr viel Wald um Tena herum, nur Wald weit und breit. Da wir keinen Strom hatten, sind wir sehr zeitig abends schlafen gegangen. Sobald es ein bisschen dunkel war, mussten alle Kinder ins Haus hinein.

Kichwa Haus ( Quelle: Kallari Kooperative)
Vor allem die Mädels, denn unsere Eltern hatten Angst, dass wir von anderen indigenen Völker, wie zum Beispiel den Waoranis entführt werden könnten.
Es war nämlich früher üblich, dass indigene Völker aus dem Amazonasgebiet Frauen anderer Völker entführt haben, um sie zu heiraten, wenn sie in ihrem eigenen Volk nicht genug Frauen hatten.
Bevor wir ins Bett, besser gesagt bevor wir schlafen gegangen sind, denn Betten hatten wir alle nicht; wir haben auf dem Boden geschlafen.
Also vor dem Schlafen, aßen wir, und danach setzten wir uns ums Feuer um die Erzählungen meiner Oma oder meines Opas zu hören. Meine Großeltern erzählten uns die Legenden der Kichwa- Indigenen, von Menschen die sich in Tiere, Sterne oder einen Mond verwandelten.
Manchmal hat mein Vater die Legenden der Shuars erzählt, von Etza (Sonne) und Iwia, die Verkörperung des Kampfes von Gut und Böse. Shuar sind noch ein weiteres indigenes Volk aus dem Amazonas und mein Vater ist ein Shuar (das heißt, ich bin der Abstammung nach eine Shuar – Kichwa). Wir Kinder hörten die Erzählungen eng zusammengerückt, da wir manchmal Angst bekamen.
Unterdessen tranken die Männer, die sich vorbereiteten, auf die Jagd zu gehen, Guayusa, den Tee, der sie die ganze Nacht munter und wachsam und bei klarem Verstand hielt.

Bei Zubereitung von Guayusa

Schlange in unserer Guayusa Chakra
Am nächsten Tag, wenn wir Feuer im Küchenbereich gesehen haben, sind wir alle aufgestanden. Wenn die Männer etwas erlegt hatten, haben die Frauen das Fleisch zubereitet und wir Kinder saßen um das Feuer herum und erzählten unseren Großeltern was wir in der Nacht geträumt hatten und sie interpretierten die Träume während wir alle Guayusa getrunken haben.
Die Erwachsenen tranken starken Guayusa, lange gekocht, bis er fast schwarz war und wir Kinder einen leichteren Guayusa der mit wenigen Blättern gekocht wurde. Guayusa verleiht uns viel Energie und damit bleiben wir aufmerksam und leistungsfähig, sagte immer wieder mein Opa
Zwar konnte mir die Interpretation der Träume manchmal meinen Tag komplett verderben. Zum Beispiel, wenn ich von Schlangen geträumt habe, hat meine Oma mir gesagt, dass ich an dem Tag sehr vorsichtig sein soll. Es könne sein, dass ich mich verletze oder krank werde oder die Schamanen mich verfluchen und mit unsichtbaren Pfeilen meinen Körper durchlöchern.
Huh, da war ich schon sehr verängstigt ! Glücklicherweise habe ich nicht alle Interpretationen erst genommen, sodass mein Tag am Ende doch nicht so schlimm war.
Sobald es ein bisschen hell wurde, machten wir uns auf den Weg zu unseren Chakras (Waldgarten). Bevor wir losgelaufen sind, haben die Erwachsen einen großen Schluck Guayusa zu sich genommen und spuckten ihn nach oben. Die Guayusa fiel wie Nieselregen auf das Gesicht und den Körper.

Der Weg zu Chakra (Waldgarden)
Damit waren wir vor Schlangenbissen und bösen Geistern geschützt, meinte meine Oma. Ich musste auch Guayusa auf mich spucken, sonst wollte es meine Oma machen, das wollte ich auf keinen Fall, da habe ich das dann doch lieber selbst getan.
Puh, aber bei uns wurden Guayusa weit mehr Eigenschaften und magische Kräfte zugesprochen, als nur munter zu halten. Das Munterhalten ist aber nachgewiesen, andere Zauberkräfte noch nicht.
Raquel